Wenn das das Ziel einer iPad-Klasse ist…

Mein lieber Herr Gesangsverein, so langsam kann ich echt nicht mehr an mich halten. Am 30.8. veröffentlichte HR-online diesen Bericht über eine iPad-Klasse – darin finden sich folgende Aussagen des „Bildungsexperten“ Pleimfeldner:

Als Antwort auf die Frage, ob die Kinder denn nicht das Schreiben mit der Hand verlernten, wenn sie nur noch am Rechner säßen:

Nein. Nicht nur wenn jemand eine echte ‚Sauklaue‘ hat und es darum geht, Ordnung ins Heft zu bekommen ist das Schreiben oder Zeichnen mit der Hand wichtig. Für den ganzen Bereich der Grundschuldidaktik ist das Schreiben und Zeichnen mit der Hand natürlich Grundvoraussetzung.

Ich würde hier mal sagen: Klarer Fall von „Thema verfehlt“. Zumindest passt die gegebene Antwort inhaltlich nicht zur Frage. Aber sie stützt meine These: Handschrift ist wichtig und korrektes Schreiben mit einem Stift ebenso. Könnte ja sein, dass ein Schüler mal irgendwo ist, wo es gerade keinen Strom und kein Internet gibt. Soll es ja geben, solche Orte und solche Situationen. Aber es geht weiter, denn eigentlich ist die Handschrift dann ja doch nicht so wichtig, meint der Bildungsexperte:

Es gibt aber auch Bereiche, in denen es sinnvoll ist, wenn die Schüler Buchstaben nacheinander eintippen und nochmal genau überlegen, wie ein Wort geschrieben wird.

Welche Bereiche sollen das bitte sein? Und: Wo ist der Unterschied zwischen „Buchstaben nacheinander eintippen“ und „Buchstaben nacheinander schreiben“? Sind Schüler eher in der Lage, über ihr geschriebenes Wort nachzudenken, wenn sie es getippt haben? Ich bezweifle das. Mal ganz davon abgesehen, dass Handys und Co ja heute viele Rechtschreibfehler schon von sich aus korrigieren. Dann braucht der Schüler schon gar nicht mehr über seine Schreibe nachzudenken – die Autokorrektur wird Buchstabendreher und fehlende Dehnungs-hs schon zu ergänzen wissen. Mein Bildungsbegriff sieht da anders aus.

Zur Frage, wie es denn mit Twitter oder Facebook im Unterricht aussähe antwortet der Bildungsexperte:

Es gibt Lehrer, die Twitter im Deutschunterricht nutzen. Da heißt es dann: ‚Jetzt twittern alle mal zu dieser Romanvorlage oder geben eine kleine Inhaltsangabe heraus‘ Über Twitter lassen sich Informationen sehr schnell sammeln. Die Schüler können sich auch Abonnements einrichten zu bestimmten Diensten, etwa von der „Tagesschau“ oder der „Zeit“.

Ich hoffe inständig, dass hier redaktionell gekürzt und der Kollege nicht korrekt wiedergegeben wurde. Oder geht es wirklich darum, dass Schüler „jetzt mal (irgendwas) zur Romanvorlage“ twittern? Analog würde der entsprechende Arbeitsauftrag dann wohl lauten „Jetzt sagt mal was zum Roman“. Zielführend, sinnvoll, didaktisch und methodisch feinsinnig. Nicht.

Soll die Inhaltsangabe tatsächlich in 140 Zeichen geschehen? Und lassen sich Informationen über Twitter wirklich schneller einsammeln als, sagen wir, im Unterrichtsgespräch? Das kann es doch nicht sein, was das Ziel einer iPad-Klasse ist, oder? Und ganz davon abgesehen: Sitzen dann 30 SchülerInnen in einem Raum und anstatt in ein echtes Gespräch miteinander einzusteigen „unterhalten“ sie sich über ihre iPads in Twitter? Schöne neue Schulwelt… :-/

Gegen Ende des Interviews sagt Pleimfeldner:

Die Medienarbeit sollte in der Schule so eingesetzt werden, dass die Schüler ein Gespür dafür bekommen, was sinnvoll ist.

Rrrrrichtig. Das sehe ich auch so. Und das unterschreibe ich auch sofort. Aber doch bitte nicht mit 140 Zeichen füllenden Inhaltsangaben. Wenn wir tatsächlich Geräte wie Tablets und Smartphones und Smartboards und Co in den Unterricht integrieren wollen, dann muss die erste Frage in meinen Augen lauten: Welchen Mehrwert habe ich davon, was gilt es, durch den Einsatz dieses Mediums zu lernen. In der aktuellen Debatte über Tablets und Co in der Schule kommt mir das bei weitem zu kurz. Da scheint Unterricht per se „gut“ zu sein, wenn er nur „neue Medien“ einsetzt. Ob er das auf eine sinnvolle und sinnstiftende Art und Weise tut, scheint egal zu sein – der Unterricht ist ja modern, irgendwie. Und das ist ja gut. Bestimmt.

Meiner Meinung nach müssen wir dahin kommen, dass Schülerinnen und Schüler die Techniken kennen lernen, mit denen heute u.a. Kultur geschaffen wird. Dazu gehören im Musikunterricht z.B. Sequencer und Synthesizer – jedoch lediglich als Ergänzung zu Trommel und Gitarre und E-Bass und Xylophon. Ich würde mir wünschen, dass wir den Hype aus den ganzen iPad- und iPhone-Klassen nehmen und endlich dahin kommen, über didaktische Implikationen der neuen Möglichkeiten nach zu denken. „Ich unterrichte mit iPad und Wikipedia“ macht den Unterricht nicht automatisch gut. Mit iPad und Wikipedia zu unterrichten muss reflektiert werden, es muss Mehrwert her. Bisher sehe ich an vielen Stellen vor allem Aktionismus. Und 140-Zeichen-Zusammenfassungen:

Am Anfang #Form in #Erde. Dann noch #Feuer damit #Metall flüssig. Am Ende ist die Glocke fertig, alle glücklich. #Turm #Schiller

Leide ich an selektiver Wahrnehmung? Oder wo sind die Unterrichtseinheiten und -projekte, in denen die Möglichkeiten der „neuen Medien“ nicht zum reinen Selbstzweck auftreten?

Wenn das das Ziel einer iPad-Klasse ist…
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5 Kommentare zu „Wenn das das Ziel einer iPad-Klasse ist…

  • 7. September 2012 um 15:57 Uhr
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    Sehe ich genauso. Viel Hype. Ich mag aber Deine Twitter-Zusammenfassung zur „Glocke“. Manchmal würde ich mir wünschen, dass Schüler das überhaupt so hinbekommen ;-)

  • 23. September 2012 um 19:57 Uhr
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    Meine Idee dazu ist geklaut, aber vielleicht nicht schlecht. Auf jeden Fall noch unerprobt:
    Parallel zum Unterricht dürfen die Schüler twittern; der Stream wird per Beamer an die Wand geworfen und an passender Stelle besprochen.
    Möglichkeiten:
    – beim Lesen eines Textes kommen Fragen auf, die dann besprochen werden
    – ein Schüler-Referat wird nicht durch Fragen unterbrochen, sondern erst im Anschluss an das Referat wird auf die Fragen eingegangen
    – Ähnlich mit Lehrervortrag, Expertengespräch, Medium (nein, nicht die Geisterbeschwörungsart)
    Wie geschrieben; noch nicht ausprobiert, aber reizvoll fände ich es schon. Und weshalb noch nicht ausprobiert? Noch fehlt es mir an einem twitter-Pendant, das nicht mit der Aussenwelt verbunden ist.

    • 24. September 2012 um 08:16 Uhr
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      Ich frage mich dabei halt nur: Wo ist der Vorteil gegenüber der Aufgabe „Schreibt Eure Fragen während des Lesens/Zuhörens auf / auf eine Folie!“?

      Klar, Twitter ist hier ein neues Medium und vielleicht daher aus sich heraus spannend – aber es bedarf massiven Aufwands (jeder braucht ein Gerät, es braucht Internet und Beamer), ich beschränke die Länge meiner Fragen auf 140 Zeichen -> ist es das alles wirklich wert? Betreibt man dabei nicht einen Riesenaufwand ohne echten Zugewinn zu haben?

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  • 21. Oktober 2012 um 15:14 Uhr
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    Sehr gut beschrieben. Ein Mehrwert im Grundschulbereich wäre für mich z.B. die Nutzung interaktiver Lehrbücher auf den Tablets um den Jüngsten die Schlepperei zu erleichtern. Eine ordentliche Handschrift halte ich für ein Kulturgut, welches nicht den modernen Unterrichtsmedien zum Opfer fallen darf.

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